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Reise in die Zukunft
ESSENTIAL startet in loser Abfolge mit Kurzgeschichten, die alle in ihrer eigenen, fiktiven Zukunft spielen. Einige davon haben wiederkehrende Charaktere und Settings, manche stehen ganz für sich alleine. Ziel der Serie ist es, möglichst kreativ mit ganz unterschiedlichen Visionen zu spielen, und den Leser mitzunehmen auf ein Gedankenexperiment: Wie könnte unsere Zukunft aussehen – und was bedeutet das für uns?
Science-Fiction-Kurzgeschichten: Teil 2
Auf Energy Island No 1
14. September 2045. Blogger Nero erreicht die erste Station seiner Reportagereise um die Zero Emission World: eine künstliche Insel zur Energieerzeugung, errichtet im flachen ostchinesischen Meer vor Shanghai.
So bequem die Anreise in der Hyperloop-Kapsel auch ist: An der Zeitverschiebung ändert das nichts. Und bei längeren Reisen in Richtung Osten plagt mich der Jetlag immer besonders. Wie gut, dass meine Chefin in der ESSENTIAL-Redaktion von Freudenberg mir ausreichend Recherchezeit eingeräumt hat. So nutze ich die ersten Tage zur Eingewöhnung und Einstimmung. Avar, meine persönliche KI-Assistentin, hat mir eine Tour durch Shanghai und entlang des Jangtse zusammengestellt. Wie herrlich, mal wieder in China zu sein. Dann ruft die Arbeit: Beim Energieversorger Shanghai Electric mache ich ein Interview mit dem Präsidenten über die CO2-Ziele für die nächsten Jahre, wobei es im sehr positiven Sinne um „negative“ Emissionen geht: Shanghai will in Zukunft mehr CO2 binden, als es emittiert. „Ein feines Geschäftsmodell, CO2-Rechte zu verkaufen“, meint Avar, um mich gleich darauf zu ermahnen: „Du verkaufst aber Texte und musst jetzt zwei Reportagen pro Monat schreiben, Nero. Also los jetzt, auf nach Energy Island No 1.“
Willkommen auf Energy Island!
Eine elektrische Schnellfähre bringt mich in aller Herrgottsfrühe vom Hafen in Pudong zur Energieinsel, die vor fünf Jahren im flachen ostchinesischen Meer aufgeschüttet wurde. Ihre Position knapp 60 Kilometer östlich der Jangtse-Mündung eignet sich besonders gut, denn hier ist das Meer weniger als 50 Meter tief. Ich atme die klare Morgenluft ein, die nach Salz schmeckt, und blinzle aufs offene Meer hinaus. Als wir uns der Insel nähern, sehe ich erste Vorboten: schwimmende Windräder, die kein Fundament haben, sondern auf Bojen aufrecht im Wasser stehen und mit Hilfe von im Meeresboden verankerten Seilen auf Position gehalten werden. Vor mehr als 20 Jahren wurden sie bereits für tiefere Gewässer entwickelt, jetzt aber auch hier im Schelfmeer erprobt. Wir fahren an großflächigen Pontons aus Kunststoff vorbei, auf denen in endlos scheinenden Reihen Solarkraftwerke montiert sind. An ihren Rändern verfügen die Pontons über riesige, pneumatische Kammern, in die die Wellenbewegungen des Meeres geleitet werden. Das einströmende Wasser komprimiert die Luft in den Kammern, damit Windturbinen daraus Strom erzeugen können. Kurz darauf steuert die Fähre den kleinen Hafen im Norden der Energieinsel an, wo mich Chen Lu bereits erwartet. Mit kurzen, präzisen Anweisungen steuert mich Avar durch eine kleine Menschenmenge zu ihr. Die junge Ingenieurin arbeitet für Shanghai Electric und soll mich durch die Anlagen führen.
„Herzlich Willkommen auf Energy Island“, ruft mir Chen Lu in beinahe akzentfreiem Englisch entgegen. Während wir vom Landesteg in Richtung Ufer laufen, zeigt sie auf eine Reihe großer Turbinen knapp unter der Wasseroberfläche, die wie ein vorgelagertes Korallenriff die künstliche Insel umschließen. „Das ist unser Gezeitenkraftwerk“, erläutert sie und schmunzelt: „Wir nutzen hier nicht nur die Kraft der Sonne, sondern auch die des Mondes. Ebbe und Flut treiben 1.500 Turbinen an, die in jeweils 30 Metern Abstand rund um die Insel platziert sind.“ Dann erklärt sie mir die Insel, die mit Lagerhallen, Werkstätten und Unterkünften ausgestattet ist. Um CO2 zu sparen, ist der Hafen das Tor zur Welt; der Flughafen wird nur in Ausnahmefällen von Flugzeugen oder Helikoptern benutzt, die mit synthetisch erzeugtem Treibstoff fliegen müssen.
Tausende Windräder in nahezu konstanter Rotation – trotz nahezu Windstille
„Hunger?“, fragt Chen Lu. „Ein kleiner Imbiss wäre nicht schlecht“, entgegne ich, obwohl ich am liebsten sofort mit der Tour starten würde. Wir holen uns einige Tempura mit Reis aus einer Garküche im Hafengebäude. Dann geht’s endlich los: Mit einem kleinen, elektrischen Golf-Cart fahren wir ins Innere der Insel. Der Anblick ist überwältigend: Auf einem weiten, sanft ansteigendem Plateau drehen sich tausende Windräder in nahezu konstanter Rotation, obwohl fast kein Wind weht. „Die Anlagen sind nach dem neuesten Zero Friction-Standard gebaut“, erzählt mir Chen Lu. „In den einzelnen Maschinenelementen entsteht praktisch keine Reibung mehr. Deswegen drehen sich die Windräder immer weiter, auch wenn fast kein Wind weht.“ Von den Photovoltaik-Elementen, die vor allem am Südhang der Insel platziert sind, hatte mir Avar bereits berichtet, dass sie selbst bei relativ geringer Sonneneinstrahlung noch verlässlich Strom produzieren.
„Und wo ist die Batterie-Zentrale“, frage ich, weil ich das von anderen Anlagen aus Europa kenne. Chen Lu zeigt zurück auf ein kleines Gebäude aus grauem Granit, das wir bereits passiert hatten. „Das ist alles? So klein?“, frage ich noch einmal. Chen Lu erklärt geduldig: „Unsere Stromproduktion hier ist zu 95 Prozent vorhersagbar. Wir kennen den Wellengang und die Gezeiten, die Windräder drehen sich beinahe konstant und auch die Solarkraftwerke sind viel unabhängiger vom Wetter geworden.“ Chen Lu dreht ihre Nase in die Sonne, die vom fast wolkenlosen Himmel scheint. „Die Batterie ist nur noch für den Notfall. Wir liefern an Shanghai Electric immer die gleiche Menge, unsere Mindestproduktion. Damit versorgen wir 150 Millionen Haushalte auf dem Festland.“ Wir sind an der Südküste angekommen und blicken auf den weiten Ozean. „Und was passiert mit dem überschüssigen Strom?“, frage ich. Chen-Lu zeigt auf ein mittelgroßes Gebäude, das fast direkt an der Küste steht. „Den führen wir zu unserer Power-to-X-Anlage und erzeugen daraus Gas und Flüssigkraftstoff“, sagt Chen Lu. „Für die Flugzeuge und die Schwerlaster auf dem Festland. Und für Eure Oldtimer!“
Auf der Rückfahrt mit der Fähre brummt mir der Kopf. Blogger sind halt keine Frühaufsteher. „Avar, hast Du alles aufgezeichnet? Ich muss den Text morgen schreiben!“ „Klar, Nero“, summt Avar, während ich langsam einnicke.
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