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REISE IN DIE ZUKUNFT
Jeden Monat finden Sie hier eine neue Folge der ESSENTIAL Science-Fiction-Serie Reise in die Zukunft. In einer fiktiven Welt, in der die Ziele des Pariser Klimaabkommens Wirklichkeit geworden sind, erkundet Blogger Nero den möglichen technologischen und gesellschaftlichen Wandel. Ziel der Serie ist es, möglichst kreativ mit ganz unterschiedlichen Visionen zu spielen, und den Leser mitzunehmen auf ein Gedankenexperiment: Wie könnte unsere Zukunft aussehen – und was bedeutet das für uns?
Science-Fiction-Kurzgeschichten: Staffel 2, Folge 2
Death by Shopping
Inspector Lee steht vor seinem bislang kniffligsten Fall. Die KI-Assistenz hat ihm erklärt, dass der Tod einer politischen Aktivistin Selbstmord gewesen sei: mit 99,7-prozentiger Sicherheit. Aber die Anti-Digitalisierungs-Aktivistin fürchtete sich bereits zu Lebzeiten davor, dass die Künstliche Intelligenz sich gegen sie zur Wehr setzen würde. Eine Verschwörungstheorie?
„Tut mir leid, Lee, das ist korrekt“, sagte sein Vorgesetzer Buckmayer.
„Der Fall wurde mir entzogen? Warum?“
Buckmayer zuckte mit den Schultern. „Das selbstdenkende Kanban-Zentralsystem hat entschieden, dass deine Arbeitskapazitäten an anderer Stelle dringender gebraucht werden.“ Sein Chef tippte sich mit dem rechten Finger an die Holobrille, und Lee sah dessen Augen von rechts nach links wandern. „Ortiz übernimmt den Fall von Ihnen, Lee“, sagte Buckmayer schließlich. „Aber so wie ich das sehe, ist das nur eine Routinesache. Der Abschluss steht ja kurz bevor. Steht alles hier. 99,7-prozentige Sicherheit. Selbstmord. Mensch, Lee!“, Buckmayer legte die Brille ab. „Warum haben Sie den Fall denn nicht schon längst geschlossen?“
„Die Technik ist unser Freund und Helfer!“
Weil ich der Künstlichen Intelligenz nicht traue, dachte Lee, aber er behielt es für sich. Er hatte keine Beweise, und er war lange genug dabei, um zu wissen: Ein paar Marotten konnte sich ein erfahrener Ermittler leisten – aber wenn er bei den Vorgesetzten den Ruf bekäme, ein Verschwörungstheoretiker zu sein, wäre das nicht förderlich.
„Ich habe hier schon einen neuen Fall für Sie, Lee. Viel interessanter. Leiche im Stadtzentrum, in der Einkaufsmeile. Kam vorhin rein, die Polizei sichert schon ab.“
Lee zog eine Augenbraue hoch: „Hat die KI da auch schon wieder den Fall im Voraus mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit für mich gelöst, und ich muss nur noch unterschreiben?“
„Nicht so negativ, Lee, die Technik ist unser Freund und Helfer!“, antwortete Buckmayer, und tippte wieder an den Rand seiner Holo-Brille. „Hurry, fahr schon mal das Auto vor“, sprach er dann laut. „Hurry“ war die Organisations-KI der Polizei für Notfall-Einsätze, und der Begriff Auto hatte in den vergangenen Jahren einen subtilen Bedeutungswandel erfahren. Im Gegensatz zu früher stand er nicht mehr für „Automobil“, sondern für „Autonomes Fahrzeug“ – wobei Sprachkritiker spitz darauf hinwiesen, dass die Wortbedeutung von Automobil selbstverständlich auch schon Anfang des Jahrhunderts „selbstfahrendes Fahrzeug“ gewesen sei.
Wenn die KI entscheidet, dass du zu neugierig bist?
Lees Gedanken auf dem Weg zum Rendezvous mit dem Polizeiauto kreisten jedoch nicht um Semantik, sondern um die Nachricht, die er kurz zuvor auf verschlüsseltem Weg von Blogger Nero, seinem geheimen Ermittlungspartner, erhalten hatte. Offenbar war der Kreis der Digitalisierungsgegner, die zu illegalen Aktionen bereit waren, größer als gedacht (Siehe Kapitel 1). Und damit auch der Kreis derjenigen, die Künstlicher Intelligenz grundsätzlich misstrauten. Genauso, wie es Hanna Karlsen getan hatte, die nun tot war. Und die nach Ansicht einer Künstliche Intelligenz Selbstmord begangen hatte.
Lee fröstelte ein wenig, als er im „Auto“ saß, das ihn zum Tatort brachte – der alten Shopping-Mall im Stadtzentrum. Was, wenn die selbstfahrende KI plötzlich entschied, dass er als Ermittler zu neugierig war?
Lee würdigte weder das große Gebäude der ehemaligen Shopping-Mall noch die vom Dach startenden Transport-Drohnen eines Blickes. Fast sämtliche Etagen dienten seit einem Jahrzehnt als zentrales Warenlager für die Stadtmitte, damit die Kunden ihre Waren möglichst schnell zugestellt bekamen. Einige Etagen beherbergten auch teure Wohnungen. Sie lockten mit dem Versprechen, den Einkaufskorb in wenigen Minuten vor die Tür platziert zu bekommen.
Der Inspector lief stattdessen auf die breite Fußgängerzone vor dem Warenlager zu, wo unter dem großen, durchsichtigen Dach eine Reihe an Schaufenstern aufgestellt waren – große Touchscreens, an denen Interessierte durch verschiedene Produkte navigieren konnten. „Die Revolution des Einkaufens“, hatten es die Medien damals genannt. „Sind Sie es auch leid, immer allein am Rechner einzukaufen?“ Lee hatte es nie gestört, allein einzukaufen.
„Die Leute heutzutage – vergessen zu trinken!“
Rund um einen der großen Screens war der Tatort mit Flatterband und schallunterdrückenden Sensoren abgesperrt. Lee trat zu den drei Polizisten. Einer reichte ihm das Board mit den Ermittlungsergebnissen der Polizei-KI.
„Kollaps wegen zu geringer Flüssigkeitszufuhr“, stand dort. „Natürliche Todesursache. Wahrscheinlichkeit: 98 Prozent.“
Lee las den Bericht und seufzte.
„Wie ist es möglich, dass heutzutage jemand vergisst, ausreichend zu trinken?“, fragte er den nächsten Polizeibeamten neben sich. „Erinnern einen daran nicht die persönlichen KI-Assistenten?“
„Steht im Bericht, Inspector. Der Tote besaß eine Retro-Smartwatch, die entsprechende Warnungen des KI-Assistenten unterdrückt hat. Im Gegensatz zur Europäischen Union haben wir in den Staaten ja noch immer kein Lebensschutzgesetz, das alle Bürger zum ständigen Einsatz eines KI-Assistenten verpflichtet.“
„Na, ein Glück“, murmelte Lee, der nie einen KI-Assistenten besessen hatte. „Und warum hat dann anstelle des KI-Assistenten nicht die Smartwatch Alarm geschlagen? Das wäre doch ihr Job gewesen.“
„Die KI hat eine 55-prozentige Wahrscheinlichkeit für eine Fehlfunktion ermittelt, und eine 45-prozentige Wahrscheinlichkeit für die Variante, dass das Opfer so vom Einkaufen abgelenkt war, dass es nicht auf die Uhr schaute. Da es sich aber um einen natürlichen Todesfall handelt, spielt der Grund ja keine Rolle. Die Leute heutzutage, nicht wahr? Wenn denen niemand sagt, dass sie was trinken müssen, dann trinken sie auch nichts. Früher hat man sich noch auf seinen Durst verlassen, heute verlassen wir uns voll auf die Assistenten.“
„Infos vom Handgelenk – Retro-Chic!“
Lee runzelte die Stirn: „Man spürt doch, wenn man Durst hat.“
„Ja, ja, das sagen Sie! Aber offenbar haben manche das komplett verlernt, oder sie trauen ihren eigenen Instinkten nicht mehr. Er ist ja auch nicht verdurstet, aber Herzprobleme in Kombination mit zu wenig Flüssigkeit und offenbar zu langem Herumstehen vor dem Touchscreen – eine problematische Mischung.“
Lee nahm die goldene Retrowatch prüfend in die Hände und kratzte sich am Bart.
„Warum genau wollen jetzt Leute wieder ihre Informationen vom Handgelenk ablesen, anstatt sie von KI-Assistenten zugeflüstert bekommen?“
„Retro-Chic“, antwortete der Polizist. „Außerdem kann man seinen Reichtum so besser zur Schau stellen. Mit virtuellen KI-Assistenten lässt sich nicht so gut protzen, die sieht ja niemand. Mit dem neuesten Modell der Eriador XV dafür umso besser.“
„Manchmal überlege ich mir ernsthaft, mich pensionieren zu lassen“, murmelte Lee. „Ich habe das Gefühl, die Welt um mich herum nicht mehr zu verstehen.“
Als Lee zu seinem Junior-Kollegen Ortiz ins Büro trat, war dieser gerade ins Gespräch mit seinem virtuellen KI-Assistenten vertieft. Lee wartete kurz.
„Fall gelöst, Lee?“, fragte Ortiz schließlich.
„Die Fälle pflegen sich in jüngster Zeit alle selbst zu lösen“, gab Lee knapp zurück. „Die Assistenz-KI spuckt Wahrscheinlichkeiten aus, und ich unterzeichne nur noch. Was ist bei Ihnen?“
Ortiz zuckte die Schultern. „99,7 Prozent Wahrscheinlichkeit auf Selbstmord. Alle Indizien sprechen für eine labile Persönlichkeit … Achso, das weißt du ja alles, du warst ja am Tatort. Hab den Fall jetzt geschlossen. Da ändert jetzt auch ein weiterer Fund vom Tatort nichts: Heute morgen kam ein Kollege mit einer Smartwatch rein. Lag in einiger Entfernung, in Richtung Fluss.“
Lee wurde hellhörig. „Eine Smartwatch?“
„Ziemlich neu. Diese Eriador-Baureihe.“
„Karlsen war doch gar nicht verheiratet.“
„Darf ich die mal sehen, Ortiz?“
Sein Kollege zuckte mit den Schultern. „Der Fall ist ja eh geschlossen. Klar. Solange sich der Ehemann nicht meldet, und Anspruch erhebt. Scheint ja recht wertvoll zu sein.“
Lee runzelte die Stirn. „Der Ehemann? Hanna Karlsen war doch gar nicht verheiratet.“
„Sie trug aber einen Ehering.“
Der Inspector starrte seinen jungen Kollegen entgeistert an.
„Ist Ihnen entgangen, Lee? Sie waren doch am Tatort. Hier, die Smartwatch.“
„Ich kam ja kaum zum Untersuchen, Ortiz. Die KI hatte den Fall ja direkt für mich gelöst und entschieden“, grummelte Inspector Lee. Nachdenklich hielt Lee das Gerät in den Händen. Warum besaß Hanna Karlsen, die Datenaktivistin, eine moderne Hightech-Smartwatch im Retro-Look. Warum hatte sie sie weggeworfen? Und warum trug sie einen Ehering?
[Den Antworten auf diese Frage kommt Inspector Lee in den folgenden Kapiteln auf die Spur …]
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