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China Punktesystem - Biete Wohlverhalten, suche Sozialpunkte
Für die einen ist es der Weg zur totalen Überwachung des Bürgers, für die anderen ein Mittel für mehr Fairness – im täglichen Miteinander und vor allem im Wirtschaftsleben. Chinas sogenanntes Sozialkredit- Punktesystem ist zwar noch nicht aus dem Pilotstadium hinaus, wird aber bereits viel diskutiert – und das vor allem in den westlichen Ländern. Was steckt dahinter? Ein Bericht aus Peking.
Und wieder startet eine Stadt das digitale Punktezählen. Seit Anfang März 2019 läuft in Wuxi, einer Sechs-Millionen-Metropole im Hinterland von Schanghai, ein sogenanntes Sozialkredit-Punktesystem. Dieses nutzt nach Angaben der Stadtregierung Big-Data-Analysen und Cloud- Technologien, um Sozialpunkte für die Bürger der Stadt in nicht weniger als 493 Kriterien zu ermitteln – etwa ihr Verhalten im Straßenverkehr, ihre Moral bei der Rückzahlung von Krediten oder ihr Engagement in gemeinnütziger Arbeit. Zur Einstimmung will Wuxi demnächst Pilotprojekte zur „Förderung der Glaubwürdigkeit“ starten. Die blumige Umschreibung zielt auf das Wohlverhalten, zum Beispiel an touristischen Brennpunkten und sogar in sanitären Einrichtungen.
Die Vertrauenswürdigen profitieren, wo immer sie hingehen – für die Diskreditierten ist es schwierig auch nur einen Schritt zu tun.
Das Projekt ist eines von Dutzenden lokaler Sozialkredit-Pilotprojekte in China. Sie bilden die Vorhut eines von Peking anvisierten landesweiten Systems, dessen künftige Ausprägung bisher allerdings noch offen ist. Klar ist nur, dass sich diese Systeme die Möglichkeiten der Digitalisierung zunutze machen werden: Vernetzte Überwachungskameras sollen Gesichter erfassen, Algorithmen diese natürlichen Personen zuordnen und Big-Data-Analysen das Geschehen untersuchen. Wuxi ist eine moderne Stadt im boomenden Yangtse-Delta – und eine der Pilotstädte Chinas für Smart Cities und autonomes Fahren. Seit 2017 installiert Wuxi eine Netzinfrastruktur in rund 200 Ampeln und begann mit Tests zur Vernetzung von Autos untereinander sowie von Autos mit den vernetzten Ampeln. Basis ist der Mobilfunkstandard LTE, der eine Echtzeitübertragung von Daten zwar noch nicht ganz ermöglicht, aber ihr schon recht nahekommt. Diese Infrastruktur soll nun helfen, personalisierte Daten zum Verkehrsverhalten für das Sozialpunktesystem zu sammeln.
Was ausländische Kritiker als ersten Schritt zu allumfassender Überwachung sehen, wird in China als Anreiz zu anständigem Verhalten präsentiert. Der Begriff dazu ist „xinyong“, Vertrauen. Dieses Vertrauen ist in der chinesischen Gesellschaft vielfach verloren gegangen. Nach Skandalen um mit Melamin gepanschte Babymilch, verunreinigte Blutkonserven und Impfstoffe sowie exzessiven Pestizideinsatz in der Landwirtschaft misstrauen immer mehr Menschen der Medizin oder der Lebensmittelsicherheit. Und anderen Menschen. Das Sozialkreditsystem stößt daher in China durchaus auf Zuspruch.
Nach dem ersten offiziellen Entwurf des Staatsrates von 2014 soll ein landesweites Punktesystem für Sozialkredite entstehen, von dem „die Vertrauenswürdigen profitieren, wo immer sie hingehen – während es für die Diskreditierten schwierig ist, auch nur einen einzigen Schritt zu tun.“ Der Begriff Sozialkredit steht für eine Reihe von Plänen, mit der die Regierung Integrität und Vertrauenswürdigkeit und die Sicherheit im Wirtschaftsleben fördern will. „Dies ist mehr ein politischer Gedanke und eine Ideologie zur Nutzung von Daten als ein einziges Projekt oder System“, urteilt Jeremy Daum von der Yale Law School, der eine Reihe chinesischer Gesetzestexte zum Sozialkredit ins Englische übersetzt hat. Dass das System auch die Zähne zeigen kann, beweist eine landesweite schwarze Liste für Personen, die sich der Vollstreckung von Gerichtsurteilen wie etwa Bußgeldzahlungen entziehen. Durch Koordination verschiedener Behörden werden säumige Schuldner daran gehindert, online Flugtickets oder Fahrkarten für die erste Klasse der Hochgeschwindigkeitszüge zu kaufen. Der Oberste Gerichtshof der Hauptstadt Peking hat nach den Worten seines Interimspräsidenten Kou Fang dafür gesorgt, dass lokale Behörden wie die Tourismusverwaltung oder das Büro für Zivilangelegenheiten die Daten der Betroffenen in ihre Systeme aufnehmen. „Das ermöglicht automatisches Vergleichen, Abfangen und schließlich die Bestrafung“, so Kou. Auch wird so automatisch die monatliche Teilnahme der Betroffenen an der Pekinger Lotterie für eines der begehrten Autokennzeichen gestoppt. In ganz China wurden seit Einführung der schwarzen Liste nach offiziellen Zahlen mehr als 18 Millionen Menschen am Kauf von Flugtickets gehindert, weitere 5,5 Millionen am Kauf von Zugtickets. Außerdem können Passagiere für Fehlverhalten in Zügen oder Flugzeugen bestraft werden. Da Zugtickets mit festen Sitzen gegen Vorlage von Ausweisen verkauft werden, ist die Identität etwaiger Störer auf Videos der Überwachungskameras in den Waggons am Sitzplatz zu erkennen. Ein Fernziel ist die digitale Gesichtserkennung, die vereinzelt auch an Straßenkreuzungen getestet wird.
Pluspunkte gibt es für Blutspenden, Freiwilligendienste oder das Melden gefälschter Produkte an die Behörden.
Der aktuelle Plan zum Aufbau des Systems läuft bis zum Jahr 2020. Danach wird es nach Ansicht von Jeremy Daum einen weiteren Plan mit neuen Zielen geben. Eine flächendeckende Anwendung des Systems ab 2020, wie in manchen Medienberichten beschrieben, ist bis dahin nicht absehbar. Die Pilotprojekte geben allerdings einigen Aufschluss darüber, wohin die Reise gehen könnte.
Leichtere Kreditvergabe
Die ostchinesische Stadt Rongchang beispielsweise ordnet ihre Bürger in Kategorien zwischen AAA und D ein. Jeder startet mit 1.000 Punkten, die sich auf 200 Arten mehren oder vermindern können. Pluspunkte gibt es für Blutspenden, Freiwilligendienste, das Melden gefälschter Produkte an die Behörden oder der Vermittlung von Investitionen in der Stadt. Minuspunkte gibt es für Steuerhinterziehung, Verkehrsvergehen oder Verstöße gegen die Familienplanungspolitik. AAA-Bürger erhalten kostenlose Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen, 30 Kubikmeter kostenloses Leitungswasser oder Ermäßigung bei den Heizkosten. Die Yangtse-Metropole Nanjing ermittelt mithilfe von Big Data und einer Kreditauskunft ein sogenanntes Kreditbild aller Unternehmen. „Meine Firma wird vom Steueramt mit A geführt, sodass wir sehr schnell einen Kredit von der lokalen Bank über zwei Millionen Yuan (263.000 Euro) bekommen haben“, erzählt Firmengründer Wu Jianhui einer Lokalzeitung. Wu brauchte das Geld für den Umzug seiner Firma.
Das Wirtschaftsleben gehört zu den wichtigsten Bereichen, in denen China das Vertrauen wiederherstellen möchte. Dazu gehören Kreditauskünfte, die denen in westlichen Ländern ähnlich sind. Im System der Zentralbank waren 2017 allerdings erst rund 300 Millionen Menschen erfasst, weniger als ein Viertel der Bevölkerung. Kreditpunktesysteme sollen Probleme lösen wie etwa, dass viele Banken fast automatisch Kredite an junge Menschen verweigern. Ähnlich geht es privaten kleinen und mittleren Unternehmen: Sie haben es schwer, an Kredite der Staatsbanken zu kommen. Durch den Mangel an Kreditinformationen steht der Appell der Regierung zu mehr Kreditvergabe an Privatfirmen in direktem Konflikt mit Bemühungen, die Risiken im Finanzsystem zu mindern.
Währenddessen erstellten einzelne Kreditdatenbanken 2018 nach Angaben des National Public Credit Information Centre eine schwarze Liste mit knapp 3,6 Millionen Unternehmen, die ausstehende Kredite nicht zahlen, in Konsumskandale verwickelt sind oder irreführende Werbung schalten. Die Folge: Sie können nicht an staatlichen Ausschreiungen und Landauktionen teilnehmen oder Firmenanleihen aufnehmen. Parallel gibt es Privatfirmen, die digitale Punktesysteme betreiben – diese ähneln allerdings eher Bewertungsmodellen, wie dies bei Online-Kaufhäusern oder Bonusprogrammen der Fall ist. Am bekanntesten und größten ist das System „Sesame Credit“ des Internetkonzerns Alibaba, der Online-Kaufhäuser wie Tmall und den Bezahldienst Alipay betreibt. Unklar ist, ob solche privaten Systeme eines Tages mit einem künftigen staatlichen Sozialkreditsystem vernetzt werden – oder ob bereits Informationen an den Staat abfließen. Die meisten Chinesen haben allerdings bislang relativ niedrige Ansprüche an ihren eigenen Datenschutz und begrüßen Anreize für mehr Anständigkeit im Wirtschaftsleben oder im Verkehr.
Dieser Beitrag stammt aus unserem Unternehmensmagazin „ESSENTIAL“, in dem wir kontinuierlich über Trends und Schwerpunktthemen aus unseren Zielindustrien und –märkten berichten. Weitere Beiträge des Magazins finden Sie hier.
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