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Wiener Walzer
Das Internationale Wiener Motorensymposium war ein Hort der Beständigkeit: In festlicher Ballsaal-Umgebung wurden die neuesten Details der Verbrennungsmotorenentwicklung diskutiert. Dieses Jahr ist alles anders, in gleich mehrfacher Hinsicht. Anlass für einen Rückblick – und einen Ausblick.
Seit 40 Jahren war es dasselbe Bild: Im April mischen sich vor der Wiener Hofburg ungewöhnlich gekleidete Menschen unter die Touristen. Wo auf dem Michaelerplatz an den meisten Tagen Reisegruppen in Alltagskleidung und Audio-Guides dominieren, bahnen sich Frauen und Männer im Business-Outfit mit Namensschildern am Körper den Weg. Denn die Hofburg ist nicht nur Touristenattraktion und Ballsaal, sie beherbergt auch internationale Kongresse. Und ist damit über Jahrzehnte zum Synonym geworden für das Internationale Motorensymposium. Nun ist dieses Jahr alles anders – in gleich mehrfacher Hinsicht.
Zum einen findet das Symposium zum zweiten Mal in Folge nicht vor Ort statt. Es wird eine zweitägige Online-Veranstaltung sein. Nach einem Jahr Pandemie ist diese Nachricht zwar wenig überraschend, eine Zäsur ist es nichtsdestotrotz. Umso mehr, weil das Symposium 2021 bereits im Vorfeld als Hybrid geplant war: teils vor Ort, teils online hätte es stattfinden sollen, wenn die aktuellen Pandemie-Regeln in Österreich das nicht verhindert hätten. „Hybrid“ ist allerdings ein passendes Stichwort: Denn auch inhaltlich unterläuft das Wiener Motorensymposium in den vergangenen Jahren einem Wandel, der sich immer mehr beschleunigt. Galt Elektromobilität lange Zeit als Nischenthema, sind E-Motoren und Hybridwagen nun im Mittelpunkt der Diskussion.
Lange wurden Alternative Antriebe hier nicht wirklich ernst genommen.
Professor Dr. Eberhard Bock, Leiter Advanced Product Technology
Professor Dr. Eberhard Bock erinnert sich noch gut an seinen ersten Besuch vor mehr als zehn Jahren. „Als junger Ingenieur und einfacher Teamleiter war ich beeindruckt davon, dass sich hier das Who is who der Automobilindustrie trifft“, sagt Bock, der mittlerweile den Bereich „Advanced Product Technology“ von Freudenberg Sealing Technologies verantwortet. „Damals hatte ich das Gefühl: Wenn du hier mal vortragen darfst, dann hast du es geschafft.“ Tatsächlich gilt die Wiener unter den zahlreichen Tagungen, die sich mit Antriebstechnik beschäftigen, als die bei Weitem elitärste. Manche sprechen sogar vom „Opernball der Motoreningenieure“. Mit aufwendigen Animationen erläutern Entwicklungschefs die Technikdetails neuer Motoren vom Drei- bis zum 16-Zylinder. Eine neue Kolbenmuldenform, eine neue Kühlkanalführung, nichts ist zu unwichtig, um nicht das unmissverständliche Signal zu senden: Wir bauen die besten Motoren der Welt. Auch die großen Zulieferer kommen in Wien von jeher nicht nur als Aussteller zum Zug, sondern dürfen nach strenger Prüfung auch neue Technologien vorstellen. 2014 stellt Bock hier erstmals die reibungsfreie Levitex-Dichtung vor.
E-Mobilität lange Nischenthema
Noch vor zehn Jahren ist die Mehrzahl der Vortragenden in Wien überzeugt: Dem Verbrennungsmotor gehört die Zukunft. Elektromobilität sei ein Nischenthema. Es sind zunächst nur einzelne Vortragende, die aus dem Mantra ausbrechen. Darunter etwa der Bosch-Chef Volkmar Denner, der in seinem Eröffnungsvortrag 2013 einräumt, dass Zwei-Tonnen-SUVs ohne Elektrifizierung künftig keine Chance mehr haben, die gewichtsspezifischen Grenzwerte zu erreichen. Zwei Jahre später wird klar, dass der bis dato zur Verbrauchsmessung verwendete Fahrzyklus geändert wird. Daher diskutieren die Experten auf dem Symposium über Gegenmaßnahmen wie variable Verdichtung und Zylinderabschaltung. BMW-Vorstand Klaus Fröhlich resümiert am Ende der Tagung: „Mit den neuen Emissionsbestimmungen nähern sich die Kosten für Verbrennungsmotoren und Elektroantriebe einander an, leider auf dem falschen Niveau.“
Seit 2019 ist mehr als jeder zweite Vortrag einem Hybrid- oder batterielektrischen Antrieben gewidmet.
2016 ist die Debatte um die Zukunft des Diesels eigentlich in vollem Gang. Auch weil künftig nicht nur die Emissionen auf dem Prüfstand, sondern im realen Fahrbetrieb zulassungsrelevant sein sollen. In der Wiener Hofburg allerdings ist davon wenig zu spüren. Mercedes-Benz stellt einen Vierzylinder- Diesel vor, der aufgrund seines Brennverfahrens und einer sehr motornahen Abgasreinigung die Zukunft des Selbstzünders sichern soll. BMW kontert mit einem Sechszylinder-Diesel, der mit insgesamt vier Turboladern auf eine Nennleistung von fast 300 Kilowatt kommt. Und Audi stellt die neue V8-Dieselgeneration vor, deren Drehmoment von bis zu 900 Newtonmeter auch für einen Zwölftonnen-Lkw ausreichen würde.
Nur Gilles Le Borgne, der damalige Entwicklungschef von PSA, plädiert für mehr Ehrlichkeit und zeigt Verbrauchsmessungen, die in Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation „Transport and Environment“ auf öffentlichen Straßen entstanden sind. Die Ehrlichkeit schmerzt: Der Peugeot 308 mit 1,6-Liter-Dieselmotor, offiziell mit 3,2 Liter auf 100 Kilometer ausgewiesen, verbraucht unter den neuen Bedingungen 5,0 Liter. „Politisch unklug“ sei der Vortrag gewesen, heißt es anschließend auf den Gängen der Hofburg. Damit sind wir bereits im Jahr 2017 angelangt. Nun reagieren, scheinbar zögerlich, auch andere Hersteller. Fritz Eichler, der wenig später in die Fahrwerkentwicklung wechseln wird, stellt das künftige Dieselaggregate-Programm von Volkswagen vor. Der kleine Dreizylinder-TDI fliegt aus dem Programm, fortan beginnt die Welt der Selbstzünder bei Volkswagen mit einem Hubraum von 1,6 Litern. Auf Übertreibungen will man in Wolfsburg künftig verzichten: Der wenige Jahre zuvor ebenfalls in Wien angekündigte Kraftprotz mit einer Literleistung von 100 Kilowatt wird ebenso wenig realisiert wie die Kombination mit einem Zehngang-Doppelkupplungsgetriebe. Doch Vorträge zu neuen alternativen Antrieben finden, wie all die Jahre zuvor, weiterhin hauptsächlich im kleinen Saal nebenan statt.
Aufbruchstimmung
Seit 2019 wendet sich das Blatt. Von diesem Jahr an ist mehr als jeder zweite Vortrag entweder Hybrid- oder rein batterieelektrischen Antrieben gewidmet. Während sich vor der Hofburg Fridays-for-Future-Anhänger zu einer Demonstration versammeln, beginnt Andreas Trostmann, Produktionsvorstand von Volkswagen, seinen Abschlussvortrag mit einem Greta-Zitat. Allein das batterieelektrische Fahrzeug verspreche eine schnelle Lösung auf dem Weg zu klimaneutralen Antrieben, so Trostmann. Sein Entwicklungskollege Frank Welsch hatte am Vortag den Elektroantrieb des ID.3 genauso vorgestellt, wie es früher nur den Verbrennern vorbehalten war: im großen Saal, mit aufwendigen Technikanimationen und stolzgeschwellter Stimme. Ob Wien seine Rolle als führendes Symposium für die Antriebstechnik behalten wird, ist trotzdem nicht ausgemacht. BMW, Daimler und Volkswagen haben ihre Präsenz bereits deutlich reduziert. „Lange wurden alternative Antriebe hier nicht wirklich ernst genommen“, sagt Eberhard Bock. „Erst jetzt wurde der Hebel umgelegt.“ Ob der Anpassungsprozess gelingt, dürfte auch davon abhängen, wer den Takt auf dem "anderen" Opernball vorgibt: Im vergangenen Jahr übernahm Bernhard Geringer, Professor an der Technischen Universität Wien, die Leitung des Symposiums. Er sagt: „Der Verbrennungsmotor ist sicher nicht im Sterben oder tot. Aber die Vielfalt an neuen reinen Verbrennungsmotorantrieben wird sinken, und die Hybridisierung, die Kombination von Verbrennungsmotor mit Elektroantrieb, wird zunehmen.“
Der virtuelle Kongress
2020 blieben schließlich erstmals in der langen Geschichte des Symposiums die Türen der Wiener Hofburg verschlossen, der Kongress zog in die digitale Welt um. Was die Veranstalter im April zutiefst bedauerten, hatte für Ingenieure und Entwickler auch einen Vorteil: die Vorträge der 41. Ausgabe waren lange über den April hinaus auf der Webseite des Motorsymposiums verfügbar. Und zeigten den strukturellen Wandel, der in der Fahrzeugindustrie auch 2020 vor sich ging. Jetzt also zum zweiten Mal ein Online-Symposium. „Neue Otto- und Dieselmotoren“ steht in der Themenliste nach wie vor ganz oben – direkt darunter allerdings folgen Begriffe wie „Wasserstoffmotor“, „synthetische Kraftstoffe“, „Hybridsysteme“ und Brennstoffzelle. Es ist etwas in Bewegung geraten in Wien – auch wenn der Platz vor der Wiener Hofburg in diesem April überwiegend leer und ohne geschäftsmäßig gekleidete Menschen mit Namensschildern auskommen muss.
Dieser Beitrag stammt aus unserem Unternehmensmagazin „ESSENTIAL“, in dem wir kontinuierlich über Trends und Schwerpunktthemen aus unseren Zielindustrien und –märkten berichten. Weitere Beiträge des Magazins finden Sie hier.
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