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„Geothermie ist ein verborgener Schatz“
Nahezu die gesamte Elektrizität in Island stammt aus erneuerbaren Energiequellen. Ist das nur eine kuriose Besonderheit – oder kann die Welt etwas von dem Inselstaat lernen? Nótt Thorberg ist Direktorin der Plattform „Green by Iceland“, die Know-how exportieren will und um Kooperationen und Investitionen wirbt. Ein Gespräch über heiße Quellen, Innovation und Energiefresser.
Frau Thorberg, wie kam es dazu, dass Island aktuell 85 Prozent seiner Energie nachhaltig generiert?
Thorberg: Das ist ein ziemlich außergewöhnlicher Weg, den wir in den vergangenen hundert Jahren beschritten haben. Es ist gar nicht so lange her, da waren wir eines der ärmsten Länder Europas – und als Insel auch geografisch abgeschnitten. Im Grunde kam die Entwicklung aus einer Krise heraus: Wir hatten Anfang des 20. Jahrhunderts gerade damit begonnen, erfolgreich Fisch zu exportieren, da zerstörte zunächst der Erste Weltkrieg und später die Ölkrise von 1973 die Zugänge zu Öl und Kohle. Energie wurde knapp. Wir mussten neue Wege gehen.
Nótt Thorberg
Nótt Thorberg ist die Direktorin von „Green by Iceland“, die sich gemeinsam mit „Business Iceland“ als privat-öffentliche Partnerschaften darum kümmern, isländische Innovationen im Bereich Energie und Nachhaltigkeit zu exportieren und Investoren anzuziehen. Zuvor arbeitete Thorberg bei der Fluggesellschaft Icelandair sowie beim isländischen Gerätehersteller für Lebensmittelverarbeitung Marel. Sie hat in Reykjavik, Cambridge und Strathclyde studiert.
„Energiekrise“ ist auch ein aktuelles Szenario …
Thorberg: Richtig, und die Isländer besannen sich auf etwas, das sie schon seit Jahrhunderten begleitet, und das sind die heißen Quellen. Der Name Reykjavik bedeutet „Bucht der Dämpfe“, wegen des dampfenden Wassers. Anfangs wurde die Erdhitze aber nur für Bäder oder Kleiderwäsche genutzt. Später, um Wohnungen zu heizen. Die Idee, das auch als Stromquelle zu nutzen, war neu. Der Erfolg aber war durchschlagend, heute macht das 60 Prozent unseres Energiemixes aus. Wobei das aus der Rückschau immer einfacher aussieht. Es mussten mutige Entscheidungen getroffen werden, der Staat hat investiert und auch Risiken übernommen, diese Technologie zu erforschen und auszubauen. Dafür haben wir heute ein wirklich tiefes und umfassendes Wissen in Geothermie.
Island hat also sehr spezielle Bedingungen…
Thorberg: Moment, das stimmt nur halb. Ehrlich gesagt ist Geothermie ein verborgener Schatz. Es ist das unglaublichste Geheimnis der Welt. Wenn Sie auf eine Karte schauen, wie viele Länder auf der Welt Geothermie nutzen könnten – dann werden Sie eventuell überrascht sein. Auf allen Kontinenten gibt es Potenzial! Kalifornien wäre ein klassisches Beispiel. Die US-Regierung hat jetzt auch Programme angekündigt. Aber es ist eben nicht nur ein Thema entlang der tektonischen Platten, wo besonders viel Hitze entsteht. Auch in Zentraleuropa, in Polen oder Ungarn sowie in Großstädten wie München und Paris gibt es Möglichkeiten. Darüber hinaus: 50 Grad heißes Wasser reicht bereits, um es sinnvoll zu nutzen. Erdwärme gibt es überall. Und es gibt viele Branchen, die Wärme für ihre Prozesse benötigen: Gewächshäuser, Aquakulturen oder auch die Zement- und Kalkindustrie.
Warum setzen dann noch so wenige Länder auf Geothermie?
Thorberg: Das ist eine sehr spannende Frage. Soweit ich weiß gibt es mittlerweile weltweit immerhin etwa 80 Länder, die angefangen haben, Geothermie zu nutzen. Die meisten aber in eher geringem Umfang. Ich glaube, solche Transformationen brauchen einfach Zeit. Wandel braucht Zeit. Es hat Gesellschaften auch sehr viel Kraft gekostet, von Kohle auf Gas umzusteigen. Solche Wechsel sind immer mit erhöhten Investitionen verbunden. Wie gesagt: Hier in Island hat der Staat eine Vorreiterrolle übernommen. Heute profitiert die ganze Gesellschaft. Und wir haben über 200 öffentliche heiße Bäder in unserem Land. Unsere wichtigsten gesellschaftlichen Diskussionen finden im heißen Wasser statt.
Auffällig ist, dass Island vergleichsweise wenig Windenergie nutzt.
Thorberg: In dem Sektor ist viel in Bewegung und Windenergie wird definitiv Teil unseres Portfolios werden. Die Regierung bereitet gerade den gesetzlichen Rahmen vor. Bis 2040 wollen wir klimaneutral sein. Aber das zeigt nochmals, wie schwer es ist, auf neue Energieformen zu setzen. Das gilt auch für uns. Bei Windenergie können wir etwas von anderen Ländern lernen, von Dänemark oder Norwegen zum Beispiel.
Mit seiner Energie im Überfluss hat Island allerdings auch die sehr energieintensive Schwerindustrie angelockt. Das war nicht unbedingt nachhaltig.
Thorberg: Man muss das auch im Kontext der Zeit sehen. 1969 entstand die erste Aluminiumhütte, das war dringend notwendig als Ausgleich für die im Niedergang befindliche Fischindustrie. Wir hatten diesen Zugang zu einer neuen Ressource und haben das genutzt, um Investoren anzulocken. Das hat uns auf den Weg in eine moderne Gesellschaft gebracht.
Insbesondere die Metallindustrie war aber nicht unumstritten. „Umweltfreundlich“ ist das nicht unbedingt.
Thorberg: Es hat alles mehrere Seiten: Diese Industrien kamen ja hierher, um bewusst nachhaltige Energie zu nutzen und Aluminium mit geringerem ökologischem Fußabdruck zu produzieren. Heute ist genau das enorm gefragt auf dem Weltmarkt. Immer mehr Unternehmen schauen auf nachhaltige Lieferketten. Ich denke, jedes Land muss sich die Frage stellen, wie es seine Ressourcen optimal nutzt. Digitalisierung kann uns übrigens dabei helfen, effizienter zu werden.
Inwiefern?
Thorberg: Weil sie dabei unterstützt, etwas vorherzusehen und Systeme zu optimieren. Ich habe vorher für eine Fluggesellschaft gearbeitet, da geht es sehr viel um Optimierung, um das Vorausdenken. So kann man auch das Thema Energie angehen: Wie viel Energie brauchen wir? Wie nutzen wir sie? Ich denke, „smart solutions“ werden uns da künftig sehr helfen.
Es mussten mutige Entscheidungen getroffen werden, der Staat hat investiert.
Aktuell zieht Island eine neue Art energieintensiver Unternehmen an: Rechenzentren und IT-Unternehmen. Ist es ein Problem, dass verfügbare Energie immer auch dazu führt, sie auszuschöpfen?
Thorberg: Island braucht Investoren und unsere Geschichte lehrt uns: Jedes Land muss seine eigene, richtige Balance finden. Wir sollten aber gleichzeitig eine diversifizierte Wirtschaft anstreben, aus Tourismus, Fischerei, Energie und grünen Investitionen. Neue Branchen anzulocken ist also Teil unserer Strategie und ich vertraue da auf die Kraft des Marktes.
Wie sehen Sie die Zukunft des Energiesektors – auf welche Innovationen hoffen Sie?
Thorberg: Verschiedene Energieformen werden noch Durchbrüche erleben. Bei der Geothermie wird derzeit an Bohrungen in fünf Kilometern Tiefe geforscht, da ergeben sich durch höhere Hitze völlig neue Möglichkeiten. Ich glaube daneben, dass im Zusammenspiel mit dem Thema Kreislaufwirtschaft noch ganz viel Potenzial steckt, da wird sich in der Zukunft sehr viel entwickeln: vertikale Landwirtschaft als Massenanwendung in Ballungsräumen zum Beispiel.
Sie sind also optimistisch, was den technologischen Fortschritt angeht?
Thorberg: Ja, aber wir dürfen nicht nur technologisch denken! Wir müssen ganz neue Anwendungen in den Blick nehmen. Neue Herangehensweisen, mit Energie umzugehen. Ich sehe bis 2050 eher eine Transformation als eine Transition. Wir stecken in einer Energiekrise, wir müssen unsere Grenzen verschieben. Aktuell haben wir in Island ein groß angelegtes Projekt, um CO2 im Boden zu speichern. Das hätte vor ein paar Jahren noch undenkbar geklungen. Technologie allein aber wird uns nicht helfen. Wir als Gesellschaft müssen uns ändern.
Wie tun wir das?
Thorberg: Indem sich jeder von uns fragt, was unsere Rolle bei dieser Transformation sein kann. Meine persönliche Erwartung ist, dass wir ein „weniger ist mehr“ erleben werden. Lokalisierte Gemeinschaften. Zirkularität. Eine Reduktion in vielen Lebensbereichen, auch im Konsum. Das alles ist Teil eines nachhaltigen Umgangs mit Energie.
Kann die Welt etwas von Island lernen, oder ist das Land zu speziell?
Thorberg: Oh, wir können auf jeden Fall anderen Ländern etwas abgeben von unseren Erfahrungen mit Geothermie, Wasserkraft oder eben Wissen über Projekte wie das Speichern von CO2. Wir sprechen bei all dem schließlich von einer kompletten Wertschöpfungskette, von der Forschung über die Planung bis zur Umsetzung. Die isländische Firma Arctic Green Energy betreibt beispielsweise über ein Joint Venture in China Geothermie-Kraftwerke in über 60 Städten. Dadurch haben wir geholfen, 16 Millionen Tonnen CO2 einzusparen – das ist mehr als fünf Mal so viel Kohlendioxid, wie Island selbst direkt ausstößt.
Ein kleines Land kann eine große Wirkung haben?
Thorberg: Ein Kollege war unlängst in Äthiopien und war überrascht, wie viele Menschen dort Island kannten. Wir machen da seit 40 Jahren Trainingsprogramme, durch die mittlerweile mehrere Hundert Leute gegangen sind. Ja, wir sind nur eine kleine Nation, aber wir können Führungsstärke zeigen. Insbesondere in Zeiten der Energiekrise. Die Welt nimmt uns wahr. Und ich glaube, die Welt muss bei den aktuellen Herausforderungen zusammenarbeiten. Wenn Island da ein wenig helfen kann, dann ist das doch ein tröstlicher Gedanke.
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