Neuigkeiten und Hintergründe aus der Dichtungstechnik erfahren, innovative Produkte kennenlernen – im kostenlosen E-Mail-Newsletter von Freudenberg Sealing Technologies.
„Raus aus der Komfortzone“
André Wiersig hat sich ein Ziel gesetzt: Als zehnter Mensch weltweit will er die Meerespassagen „Ocean’s Seven“ durch- schwimmen. Jedes Jahr nimmt er sich eine neue Passage vor, gerade kommt er aus Japan zurück. Zwei fehlen ihm nun noch. Ein Gespräch über Durst, Antrieb, Selbstbestimmtheit – und was man beim Kampf gegen hohe Wellen, Strömungen und Haie mitnehmen kann für das Berufsleben.
Was ist für Sie Durst, Herr Wiersig?
Wiersig: Durst ist zunächst einmal ein Reiz. Eine Erinnerung daran, bestimmte Dinge zu erledigen. Es gibt Bedürfnisse, die muss man eben stillen. Aber da stellt sich ja schon direkt die Frage: Habe ich Appetit oder habe ich richtig Hunger? Wie stark ist der Reiz, und wie stark nehme ich ihn wahr? Ich bin schon früher durch extrem kaltes Wasser geschwommen und habe damals gedacht, mir ist kalt. Heute nehme ich ähnliche Temperaturen gar nicht mehr als kalt wahr. Mein Durstgefühl von vor acht Jahren ist sicherlich auch nicht mehr dasselbe. Ich habe mich auf ein anderes Level gebracht.
Anders gesagt: Durst, Kälte und Hunger sind relativ?
Unsere Vorfahren kannten vermutlich echten Durst, was wir heute im Alltag empfinden, ist ja allenfalls ein leichter Anflug. Mir ist es einmal beim Training für den Ironman passiert, dass ich auf der Laufstrecke nach Kühen Ausschau gehalten habe, weil ich vor lauter Durst bereit war, aus der Kuhtränke zu trinken. Im Alltag ist ja alles verfügbar. Es ist immer warmes Wasser da, immer Essen. Nicht nur das, sogar genau das Essen, das ich am liebsten habe. Es ist alles da. Auch Informationen sind endlos verfügbar. Wir leben heute in einer Komfortzone. Die Frage ist: Was macht man daraus?
Sie verlassen diese Komfortzone bewusst, indem Sie weltweit Meerespassagen durchschwimmen und dabei wegen der Strömung bis zu 53 Kilometer am Stück schwimmen.
Schauen Sie, das Meer verkommt ja heutzutage zur Kulisse. Wenn die Leute ans Meer fahren, schwimmen sie nicht im Meer, sondern im Hotelpool. Gehen Sie mal beim nächsten Urlaub nachts an den Strand, dann ins Wasser, und schwimmen Sie geradeaus ins Dunkle. So starten meine Passagen. Ich setze mich der Natur aus. Wenn Sie zwischen den hawaiianischen Inseln unterwegs sind, dann ist es da extrem tief, es gibt hohe Wellen. Es gibt Haie, Wale, giftige Quallen. Da ist man der Natur vollkommen ausgeliefert. Ich habe zwar ein Begleitboot dabei, das kann aber im Notfall auch nicht helfen, denn wegen der hohen Wellen darf es gar nicht zu nahekommen, sonst überfährt es mich noch.
Die Kälte haben Sie jetzt noch gar nicht erwähnt.
Im North Channel zwischen Irland und Schottland waren Wassertemperaturen um die 13 Grad. Untrainierte Menschen überleben das in der Badehose nur eine Stunde, ich war über zwölf Stunden unterwegs. So was geht, unser Körper hält das aus. Aber man muss sich vorbereiten. Ich habe drei Jahre lang ausnahmslos nur kalt geduscht und mich ins eiskalte Wasser der Regentonne gesetzt. Das ist eine Wahnsinnsüberwindung, aber im Grunde kann so etwas jeder von uns machen. Man muss es nur wollen.
Was treibt jemanden wie Sie dazu an, sich diesen Strapazen auszusetzen?
Der Kontrast zum alltäglichen Leben. Ich bin ja auch berufstätig, ich fahre mit der S-Bahn ins Büro, überall sind Menschen, man ist jederzeit erreichbar. Draußen dagegen ist alles puristisch. Selbstbestimmt. Sie spüren die Natur, aber Sie können die Natur nicht bezwingen. Man kann nicht gegen die Wellen arbeiten. Man kann sich noch so gut vorbereiten, wenn der Ozean nicht mitmacht, kann niemand dagegen anschwimmen. Ich liebe das.
Sie können einem Hai nichts vorspielen.
Sie lieben das? Warum?
Weil ich komplett ein Teil des Meeres werde. Ein winziges Teilchen, das herumgetrieben wird. Es ist phantastisch. Man muss sich eben darauf einlassen.
Und auf die Haie?
Die Haie sind da, und es wäre fatal und verrückt, wenn ich mich selbst betrüge und sage, das geht schon gut, da sind keine Haie. Im Gegenteil: Ich darf mich nicht erschrecken, wenn ich einem begegne. Ich bin der Gast, das ist deren Zuhause. Ich bin der Eindringling. Ich bin auch schon von einer Portugiesischen Galeere gestochen worden, das sind Schmerzen, die wünsche ich meinen ärgsten Feinden nicht, die halten eine Stunde lang an, dann wird es langsam besser.
Und in solchen Situationen denken Sie nie daran, aufzugeben?
Natürlich beschäftigt man sich mit Aufgabe. Das ist ja nichts Schlechtes. Leute, die sagen: „Ich gebe nie auf!“ – denen glaube ich nicht. Ich kann die Dinge infrage stellen, aber währenddessen sollte ich erstmal weitermachen. Und plötzlich wird der Gedanke ans Aufgeben immer geringer. Ich habe schon öfter beschlossen: In einer halben Stunde höre ich auf, und plötzlich schwimmt man noch eine halbe Stunde und noch eine. Dann kommt die Sonne raus, und der Gedanke ist weg, weil er schon sechs oder sieben Stunden alt ist und die Küste in greifbarer Nähe. Dunkle Gefühle fressen einen auf.
Von einer Qualle verbrannt werden, da würde Ihnen aber niemand vorwerfen, aufzugeben.
Klar, wenn einem der Schmerz fast die Sinne raubt, da überlege ich, ob ich abbreche. Aber dann denke ich: Wenn ich im Boot sitze, habe ich die Schmerzen ja trotzdem – da kann ich auch gleich weiterschwimmen. Unser Körper funktioniert, wir sind für ganz andere Sachen bestimmt, jeder von uns. Im Trainingslager auf Mallorca schwimme ich da auch mal gezielt in Quallen rein, damit man lernt, mit den Schmerzen umzugehen. Das ist auch eine Überwindung, aber es hilft gegen Panik. Ich glaube, Portugiesische Galeeren sind nur tödlich, weil Menschen panisch werden und ertrinken.
Wichtigste Regel in jeder Lebenslage: Ruhig bleiben?
Ja, das gilt auch für die Begegnung mit Haien. Der Hai kennt die Situation, dass alles um ihn herum ausflippt, wenn er erscheint, das ist er gewohnt, da erwacht sein Jagdinstinkt. Wenn ich aber ruhig bleibe, ist er irritiert und verliert sein Interesse.
Das klingt offen gestanden leichter gesagt als getan.
Sie können so einem Hai nichts vorspielen, entweder Sie sind ruhig oder nicht. Auch so eine Lehre für den Alltag: Wir wollen heutzutage immer mehr sein, als wir sind. Wir wollen immer cool wirken, und die Technik gibt uns die Mittel dazu. Wir sind es gewohnt, unsere Fotos mit Bildbearbeitung zu optimieren, besser aus- zusehen als in Realität. Einem Tier aber können Sie nichts vormachen, der Hai spürt das. Ich sehe da wirklich Parallelen zum Beruf: Oft haben wir auch Extrembedingungen im Berufsalltag. Wir haben so viele Faktoren, die auf uns einprasseln, mehrere Herausforderungen gleichzeitig, die man selbst nicht beeinflussen kann, oder nur bedingt. Da gilt dasselbe: nicht in Panik verfallen. Hinterfragen – ja. Aber das Ziel im Blick behalten.
VITA
Der gebürtige Paderborner betrieb bereits in den 90er Jahren semiprofessionell Triathlon und begann nach einer Pause wieder 2002, parallel zum Vollzeitjob bei einem IT-Dienst- leister und seinem Familienleben. Daraus entwickelte sich die Idee, die sieben Ozean- passagen zu durchschwimmen. Wiersig hält mittlerweile auch Vorträge bei Unterneh- men über das Erreichen von Zielen und Charakterstärke und engagiert sich für den Umweltschutz. Für die letzten zwei Passa- gen sucht er noch Sponsoren.
Wer durstig ist, also etwas erreichen will, der muss ein konkretes Ziel haben?
Man hat im Alltag auch Unternehmensziele, wir bekommen Ziele vorgegeben. Aber es ist ein Unterschied, ob ich mir dieses Ziel selbst stecke. Leute, die bewusst etwas vorhaben, haben eine andere Körperhaltung, die beeinflussen ihr gesamtes Umfeld. Man spürt die Selbstsicherheit. Nichts anderes ist das, was ich mache. Nachts an einem Strand zu stehen und ins Wasser zu steigen, das klappt nicht ohne Selbstsicherheit.
Sie sehen Lehren für den Unternehmensalltag?
Klar, denn das, was ich unmittelbar beeinflussen kann, sind nicht das Meer und der Wind. Sondern nur mich selbst und meine eigene Haltung. Das ist im Job und im Privaten genauso. Die Unzufriedenheit, die viele Leute empfinden, entsteht oft daraus, dass sie sich selbst für so wenig verantwortlich fühlen. Mein Plädoyer an jeden ist: Raus aus der Opferrolle. Wenn die Wellen hoch sind, dann nützt es nichts, herumzubrüllen, dass das Meer schuld ist. Ich muss mir im Vorfeld darüber im Klaren sein, dass es Komponenten gibt, die ich nicht beeinflussen kann.
Im Beruf heißt Ziele erreichen oft Teamarbeit. Haben Sie ein Team?
Ja, und jeder wird nach seinen Stärken eingesetzt. Mein Schwager zum Beispiel ist eine sehr zentrale Person, nämlich der Mann im Beiboot. Er ist absolut verlässlich, er wird nicht seekrank. Ich weiß, wie sehr ich mich auf ihn verlassen kann, das ist extrem wichtig. Ich muss genau wissen, was jeder in meinem Team kann. Am Ende aber schwimme ich alleine, das ist mein Part, da bin ich verantwortlich.
Wie geht man mit Rückschlägen um?
Indem man sie akzeptiert. In Japan war die Küste zum Greifen nahe, aber für die letzten vier Kilometer habe ich sechs Stunden gebraucht, wegen der Strömung. Wohlgemerkt, ich bin in dieser Zeit wie vorher mit vier Stundenkilometern geschwommen. Man schwimmt volles Rohr, aber man kommt nicht vorwärts – und da hatte ich schon sieben Stunden in den Knochen. Am Ende habe ich 13 Stunden gebraucht. Es gab auch andere vor mir, die hatten mehr Glück mit Strömung und Wetter und kamen in sieben Stunden durch. Das ist dann eben so.
Wie reagieren denn andere Menschen, wenn Sie erzählen, dass Sie in ihrer Freizeit Meeresengen durchschwimmen?
Viele sind fasziniert, viele können es aber auch nicht nachvollziehen. Wir Menschen tendieren dazu, Dinge auf uns selbst zu projizieren. Und wenn ich glaube, dass ich etwas selbst nicht kann, nenne ich es „verrückt“. Das ist schade. Wobei, zugegeben, wenn ich auf der Fähre nach England fahre und hinunter ins Wasser schaue, frage ich mich auch: Hier bist du durchgeschwommen? Wie hast du das gemacht?
Schauen wir auf Durst mal ganz konkret: Sie sind von Salzwasser umgeben, können davon aber nichts trinken. Wie versorgen Sie sich?
Ich trinke alle halbe Stunde etwas, wobei das auch die Nahrung einschließt, man kann nicht kauen und gleichzeitig schwimmen. Dabei darf ich das Boot nicht berühren, bekomme die Flüssignahrung also angereicht. Man kann sich auch nicht treiben lassen, es gibt ja die Strömungen, man muss also weiterschwimmen. Diesen Takt halte ich streng ein, ich habe auch keine andere Wahl, oft ist das Boot ja auch weiter weg. Im Übrigen kann man gar nicht so viele Kilokalorien reinholen, wie man verbraucht. Ich habe da auch schon viel herumexperimentiert: So eine Strecke verbraucht gut 18.000 Kilokalorien. Am Ende ist man einfach nur müde. Da ist auch kein Hochgefühl, wie es Marathonläufer im Ziel haben. Du bist ja alleine. Du bist erleichtert, froh, aber auf einem anderen Niveau. Das Gefühl dauert dann noch Monate.
Portugiesische Galeere
Der beeindruckende Polyp mit seiner aufgerichteten, bläulichen Segelblase und den bis zu 50 Meter langen Tentakeln kann mit seinem Gift kleinere Fische töten. Für Menschen ist der Kontakt extrem schmerzhaft und hinterlässt Quaddeln, die an Peitschenhiebe erinnern. Gelegentlich endet die Begegnung tödlich. Das Tier lebt vor allem im Pazifik, der Karibik und den Kanaren.
Erscheint Arbeit im Büro anschließend nicht schrecklich banal?
Nein, ich fühle mich anschließend sogar besser und effizienter. Frisch. Vielleicht so wie ein Computer, der abgeschaltet und wieder hochgefahren wurde. Es tut auch gut, etwas Normales zu haben, das ergänzt sich beides gegenseitig. Ich will nicht nur in der Meereswelt sein. Man hat beim Schwimmen ja keine Ablenkung, beim Laufen oder Radfahren sehe ich Natur, Wald, aber beim Schwimmen sieht man nichts. Wenn nicht gerade ein Hai einen halben Meter vor dir auftaucht.
Es heißt immer wieder, unsere Meere vermüllen. Bekommen Sie davon etwas mit im Wasser?
Ich bin einmal nachts im Ärmelkanal in eine Plastikplane reingeschwommen, da kriegen Sie den Schock Ihres Lebens. Sie wissen ja nicht, was das ist. Wenn man in der Badehose rumschwimmt, ist man den ganzen Sachen voll ausgesetzt. Die großen Müllstrudel, die man in den Medien sieht, die kriege ich nicht mit, genauso wenig wie das Mikroplastik. Und unter der Oberfläche liegt noch viel mehr. Ich habe seit einiger Zeit das Gefühl, ich muss von all dem mehr erzählen, ich muss allen sagen, wie es wirklich ist. Ich versuche auch gerade Kinder zu ermutigen, mehr ins Meer hineinzugehen, es ist ja wichtig, dass wir die Natur um uns herum spüren.
Was muss sich ändern?
Das Bewusstsein. Dass uns bewusst wird, dass dieser Müll von uns kommt und dass wir auch die Verantwortung übernehmen für das, was wir getan haben. Nicht irgendein Präsident, nicht irgendeine Regierung. Wir alle. Wir müssen wegkommen, klein zu denken, oder auch nur in nationalen Maßstäben. Das Meer kennt keine Grenzen.
Eine große Aufgabe.
Eine riesige Aufgabe! Aber es kann ja jeder selbst beginnen zu handeln. Ob ich am Strand etwas Müll sammle oder mir ein Elektroauto kaufe: Es geht vor allem um das Zeichen, und es geht um das Anfangen, um das Machen. Wir müssen umdenken – und um-handeln, sozusagen.
Wie Sie vorhin sagten: Uns Ziele setzen?
Ja, da sind wir wieder am Anfang: Für Ziele brauche ich Selbstbewusstsein. Wenn man es schafft, das zu machen, was man sich selbst vorgenommen hat, dann ist das ein großartiger Erfolg. Der erste Schritt dazu ist Selbstvertrauen: Das, was ich mir vornehme, das kann ich auch. Und das beweise ich mir auch. Viele von uns machen sich da etwas vor und testen sich nie selbst.
Es muss aber nicht gleich die Ozeandurchquerung sein?
Nein, nein, ich rede davon, öfter mal etwas Neues auszuprobieren, die Komfortzone von alleine zu verlassen. Und nicht, weil der Partner dir sagt: “Mach doch mal mehr Sport!“.
Wann startet die Vorbereitung auf Ihre nächste Meerespassage?
Die ist schon in vollem Gange. Ostern 2019 schwimme ich die Cookstraße zwischen der Nord- und Südinsel Neuseelands. Die Strecke gilt als die stürmischste Meerenge der Welt, es gibt hohe Wellengänge, oft sehr viele Haie dort und Würfelquallen. Ich möchte da wirklich nicht länger im Wasser bleiben als nötig.
Hat man überhaupt Zeit, sich auch das Land vor Ort anzusehen?
Man kommt mit Leuten zusammen, abseits der Touristenpfade. In Japan habe ich Fischer getroffen, die seit Generationen dort leben. Die Menschen vor Ort kennen ihr Meer oft sehr genau. Die Meerespassage auf Hawaii ist zum Beispiel die traditionelle Strecke für ein lokales Kanurennen, dabei sind schon Leute abgetrieben und nie wiedergekommen. Wenn diese Menschen sehen, dass du dort durchschwimmst – die begegnen dir mit ehrfürchtigem Respekt. Ich gebe zu, das ist ein Gänsehautgefühl.
Weitere Storys zum Thema Food & Beverages