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Motorroller im Stadtverkehr
Weltweit ersticken Innenstädte im Stau, Autofahrer verzweifeln, Verkehrsplaner suchen Auswege. Lässt sich etwas lernen von jenen Städten, in denen der Verkehr überwiegend auf motorisierten Zweirädern abläuft? Ja, wenn man in die Zukunft denkt – und umdenkt.
Es ist ein Gewusel, ein endloses Gehupe und ein kaum zu entwirrendes Ineinander- und Auseinanderfahren. Wer den Verkehr in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi beobachtet, dem fallen spontan Analogien aus dem Tierreich ein: So ähnlich müssen sich Ameisen bewegen oder Fischschwärme. Die Ströme teilen sich, fahren Kurven, biegen um die Ecke, fahren durcheinander. Es ist eine ganz eigene Form der Schwarmintelligenz und die Dynamik eine völlig andere, als die meisten Städte weltweit sie kennen, in denen Autos sich vergleichsweise schwerfällig im Stop-and-go-Verkehr vorwärtsschieben.
„Motorcycle Dependent Cities“ lautet der in der Verkehrswissenschaft übliche Begriff für solche Städte. Es gibt eine Reihe davon, vor allem in Asien: die Großstädte in Vietnam, aber auch mit Abstrichen Städte wie Bangkok in Thailand oder Surabaya in Indonesien. Aus diversen historischen Gründen hat sich in diesen Städten ein Verkehr entwickelt, der besonders stark auf motorisierte Zweiräder setzt. Auch in Tokio, Singapur oder Hongkong gibt es einen höheren Anteil an Motorrollern als in vergleichbaren Städten Europas oder Amerikas. „Lehrbücher zum urbanen Transport aus westlichen Ländern erwähnen den Motorroller überhaupt nicht“, schreibt der Wissenschaftler Khuat Viet Hùng in seiner Dissertation zum Thema. Sobald auf 1.000 Einwohner mehr als 350 Motorroller kommen und die Zweiräder mehr als die Hälfte der Verkehrsteilnehmer stellen, definiert er eine Stadt als „motorradabhängig“. Einher geht das häufig mit einer im Gegenzug eher schwachen Infrastruktur für öffentliche Verkehrsmittel.
Drei Viertel aller Wege mit dem Roller
In Ho-Chi-Minh-Stadt, der südvietnamesischen Metropole, kommen auf 1.000 Einwohner sogar rund 700 Motorroller – und nur etwa 30 Autos. Etwa drei Viertel aller täglichen Wege werden mit dem Motorroller zurückgelegt, der Fußweg spielt mit sieben Prozent eine marginale, das Auto mit vier Prozent eine noch geringere Rolle. Wer zur Arbeit fährt, einkaufen oder „kurz mal zu Freunden um die Ecke“, der nutzt dafür den Roller. Auch wenn die Zahl der Autos in den vergangenen Jahren zugenommen hat, sprechen viele Faktoren gegen das Auto: Seitenstraßen sind eher schmal und schlecht zugänglich, Parkplätze sind Mangelware. Aus Angst vor dem Verkehrskollaps erhebt die vietnamesische Regierung zudem sehr hohe Fahrzeugsteuern.
Aber die Massenschwärme an Zweitaktern haben ebenfalls ihre Tücken: Sie sind laut, und ihre Benzinmotoren vergiften die Umgebung genauso wie Fahrzeuge auf vier Rädern. Auch in puncto Sicherheit schneiden die Roller vergleichsweise schlecht ab, in Vietnam kommen jährlich auf 100.000 Einwohner 24 Verkehrstote – in Deutschland sind es nur vier. Zusätzlich führt die Wendigkeit der Motorroller dazu, dass Fahrer sich durch die kleinste Lücke schlängeln und so auf ihre eigene Weise Staus und Verkehrschaos produzieren. Die Alternative aber sähe noch düsterer aus: Würde man die Motorroller durch Autos ersetzen, käme der Verkehr in diesen Städten komplett zum Erliegen. Gerade Nebenstraßen und kleinere Gassen so wie die Hanoier Altstadt sind mit Motorrollern erstaunlich gut zu erreichen, und diese verbesserte Erreichbarkeit fördert auch lokale Wirtschaftsmöglichkeiten. Geschäfte und Gastronomie brauchen Zugang.
Wie entkommt die Menschheit dem Mega-Stau?
Aus diesem Blickwinkel sind die Motorrollerstädte in mancherlei Hinsicht den Automobilmetropolen sogar überlegen. Und sie könnten eine Antwort sein auf die Frage, die Wissenschaftler weltweit seit einiger Zeit umtreibt: Wie können Städte die Zahl ihrer Autos senken – und wie lässt sich verhindern, dass Städte in Schwellen- und Entwicklungsländern reihenweise in die gleiche Falle laufen, ihren Transport abhängig vom Automobil zu machen, inklusive der Probleme wie Staus und Umweltbelastung? Der durchschnittliche Bewohner in Los Angeles verbringt laut einer Studie der Verkehrsbeobachter von Inrix mehr als 100 Stunden seiner jährlichen Lebenszeit im Stau. In Städten wie São Paulo, Bogotá und London sehen die Zahlen nicht viel besser aus. Dagegen schneiden von Motorrollern dominierte Städte deutlich besser ab. Selbst während der Rushhour messen die Statistiker in Hanoi noch immer eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde – manche amerikanischen Städte erreichen nicht einmal die Hälfte.
Weltweit entwickeln sich Städte in der jüngsten Vergangenheit in mehr und mehr motorisierte Städte. Darunter auch solche, die vor nicht allzu langer Zeit noch eine vergleichsweise arme Bevölkerungsstruktur und ein schlechtes Straßenangebot aufwiesen – beides Faktoren, die den Kauf von Autos verhinderten. Wo aber mehr und mehr Fahrzeuge die Straßen befahren, geraten auch Optionen für den öffentlichen Nahverkehr in Schwierigkeiten. In São Paulo ist die Zahl mit dem Bus zurückgelegten Kilometer pro Kopf seit den 90er Jahren gesunken. Sind kleinere Fahrzeuge wie Motorroller ein möglicher Weg zu fließenden Verkehr?
Die Mischung wird es am Ende ausmachen: Verkehrswissenschaftler Khuat Viet Hùng plädierte bereits in seiner Dissertation 2006 für eine Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs in den vietnamesischen Städten. So blieben die Mobilitätsvorteile der Motorroller erhalten, und die Nachteile ließen sich eingrenzen. Hinzu kommen die neuen Möglichkeiten von Big Data, Verkehrsanalyse und verkehrsleitenden Apps, von selbstfahrenden Taxis und Carsharing. Wer nun noch einen wachsenden Anteil an umweltfreundlichen, elektrisch betriebenen Smartscootern und E-Bikes hinzurechnet, erhält eine erstaunlich nachhaltige Zukunftsvision. In jedem Fall sind Denker gefragt, die Verkehrsplanung der Zukunft entlang neuer Linien zu entwerfen. Die alten Visionen, laut denen mehr Verkehr einfach mehr Platz benötigt, führten zu sechsspurigen Straßen mit Autostaus wie in Amerika oder zu einem unentwirrbaren Knäuel von Zwei- und Vierrädern wie in vielen asiatischen Städten. Umdenken ist gefragt. Und warum nicht auch den Motorroller mitdenken, der in den westlichen Städten so eine seltene Erscheinung ist.
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Dieser Beitrag stammt aus unserem Unternehmensmagazin „ESSENTIAL“, in dem wir kontinuierlich über Trends und Schwerpunktthemen aus unseren Zielindustrien und -märkten berichten. Weitere Beiträge des Magazins finden Sie hier.
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